Walter Schwimmer: Europa – gefordert oder überfordert?

International policies

Österreich ist überfordert. Deutschland ist überfordert. Europa ist überfordert. „Überfordert“ kommt in fast jedem Medienkommentar vor und hat gute Aussichten, zum Unwort des Jahres zu werden. Aber aller Überforderung zum Trotz wird der Flüchtlingsstrom nicht stoppen. Menschen, die so verzweifelt sind, dass sie sich mit ihren Kindern seeuntüchtigen Booten anvertrauen oder zu Dutzenden in Kleinlastwagen stopfen lassen, können auch durch Zäune und Grenzkontrollen nicht aufgehalten werden. Oder wie es EU-Kommissarin Malmström plakativ ausdrückt: „„Wenn wir an der Grenze einen Zaun mit 50 Meter Höhe bauen, finden die verzweifelten Menschen eine Leiter mit 51 Meter Höhe.“ Mechanismen wie Dublin oder die „sichere-Drittstaaten-Regelung“ müssen angesichts der Massen, die in Bewegung geraten sind, versagen. In den hoffnungslos überfüllten und in jeder Hinsicht mangelhaft versorgten Lagern der Nachbarstaaten Syriens, Jordanien, Libanon, Türkei, warten vier Millionen auf eine Chance, dieser Tristesse zu entkommen. Ganz zu schweigen von den cca. 13 Millionen Syrern, die im Lande selbst tagtäglich dem Horror des Kriegs ausgesetzt sind, dem sie entfliehen wollen wenn es nur irgendwie geht. Wenn Europa schon von wenigen hunderttausend Flüchtlingen überfordert ist, wie will und kann Europa mit einer solchen, anscheinend unvermeidlichen Völkerwanderung umgehen?

Alle wissen, einer solchen tatsächlichen Überforderung kann man nur mit vorbeugenden Maßnahmen begegnen. Auf dem Papier, in Kommentaren und schönen Erklärungen sind sie teilweise auch schon angesprochen. Man muss in das humanitäre, soziale und wirtschaftliche Umfeld des Herkunftslandes der Migration investieren. Geschähe dies im ausreichenden Ausmaß, würde es zweifellos in vielen Fällen der Wirtschaftsmigration Abhilfe schaffen. Aber abgesehen von der Frage, ob die berühmten 0,7% des BIP überhaupt ausreichen würden, ist nicht nur Österreich von diesem Ziel weit entfernt. Auch die Hilfe für die Flüchtlingslager in den Nachbarländern ist ein grundsätzlich richtiger Ansatz und könnte momentanen Druck vermindern. Derzeit ist die Hilfe aber sicher nicht ausreichend, auch wenn sich Politiker wie Cameron damit brüsten – und Lager bleibt Lager und ist nicht das, was sich junge Menschen und Familien als Perspektive vorstellen. Nicht von ungefähr haben die Flüchtlinge in Ungarn „No camp“ auf ihre Schilder geschrieben.

Noch dramatischer ist aber die Situation der Menschen die zwischen die Fronten des Bürgerkriegs oder unter die Terrorherrschaft der Dschihadisten geraten sind. Ein Ende der Gewalt scheint nicht absehbar. Zwar greifen die USA und ihre Verbündeten die IS Milizen aus der Luft an, aber abgesehen vom Risiko, dass darunter erst recht Zivilisten leiden können, haben die Luftangriffe die IS kaum zurückdrängen können. IS kontrolliert mindestens ein Drittel des syrischen Staatsgebietes. Die restlichen zwei Drittel „teilen“ sich die Regierung Assad und die unterschiedlichsten Oppositionsgruppen, von den Kurden über die „Freie Syrische Armee“ bis zu mehr oder weniger radikalen islamistischen Gruppierungen einschließlich der mit der AL Kaida assoziierten Al Nusra Front. Alle sind schwer bewaffnet und nicht zimperlich in ihren Aktionen und Kämpfen. Der Verlauf der Fronten ist oft überraschend. Es ist hierzulande wenig bekannt und auch von den Medien verschwiegen, dass die christlichen Milizen vorwiegend auf der Seite der syrischen Regierung kämpfen, weil sie sich vom säkularen Regime mehr Freiraum und Schutz vor islamischen Extremisten erwarten. Jedenfalls ist Hilfe vor Ort praktisch unmöglich solange jeder gegen jeden kämpft. Viele internationale Hilfsorganisationen haben sich wegen der Gefahren bereits zurückgezogen. Militärisch zu gewinnen ist dieser Bürgerkrieg von keiner Seite. Auch nicht mit ausländischer Unterstützung, wie sie die Regierung Assad vom Iran und von Russland, die „Freie Syrische Armee“ von westlicher Seite und einzelne islamische Gruppen von Saudi-Arabien erhalten. Die IS kann in ihrem Herrschaftsgebiet fast ungehindert wüten während sich ihre Gegner gegenseitig bekriegen und so ihre Kräfte binden.

Also gibt es keine Chance auf Beendigung des Bürgerkriegs? Handelt es sich vielleicht gar um einen sinnlosen Stellvertreterkrieg nach dem Muster des Kalten Kriegs, möglicherweise sogar mit russischen Bodentruppen? „Lösungen“, wie sie strategische Experten des Westens vorschlagen, zuerst das „Problem Assad“ politisch und militärisch anzugehen, und sich dann dem IS entgegen zustellen, können wohl nur zu weiterer Eskalation, sprich auch zu einer Zunahme der Flüchtlingsströme, aber zu keiner wirklichen Änderung des Status quo führen. Wenn als Antwort auf die militärische Unterstützung Russlands für die Assad-Regierung verstärkte Unterstützung der Rebellen aus dem Westen käme, wäre das Resultat wieder Eskalation, mehr Leiden der Zivilbevölkerung und neue Flüchtlingsströme. Natürlich lässt sich diese verfahrene Situation auch bestens dazu nützen, Russland und Putin anzuprangern, wenn sie den Diktator Assad trotz seines Vorgehens gegen die eigene Bevölkerung unterstützen. Aber was hilft’s und was ändert das? Mit Kalter-Krieg-Rhetorik ist man nur weiter weg von einer befriedigenden, vor allem befriedenden Lösung. Es ist auch sinnlos, darüber zu streiten, ob mehr Flüchtlinge das Land wegen des IS oder wegen Assad verlassen haben und verlassen wollen. Egal was es war, die Menschen haben es nicht mehr ausgehalten. Fakt ist auch, dass die, die vor dem IS fliehen, im restlichen Syrien keine Sicherheit und keine Versorgung finden können.

Aber schon einmal war man froh, als Russland und Putin sich einschalteten. Mit Hilfe Russlands konnte das syrische Regime vor zwei Jahren dazu gebracht werden, seine Chemiewaffen abzugeben und in einer internationalen Aktion vernichten zu lassen. Obama hat sich seinerzeit bei Russland ausdrücklich dafür bedankt. Die USA konnten sich mit Russland auch über die jüngste Sicherheitsratsresolution zu Syrien einigen als wieder Chemiewaffen in Syrien auftauchten. Der Atom-Deal mit dem Iran wäre ebenfalls ohne Beteiligung Russlands (und Chinas) nicht zustande gekommen. In beiden Fällen ging es um gemeinsame Bedrohungen, um gemeinsame Ziele, die Ächtung chemischer Kampfstoffe und die Nichtweiterverbreitung von atomaren Waffen. Putin und sein Außenminister Lawrow haben auch in der aktuellen Situation in Syrien (und Irak) schon klar die gemeinsame Bedrohung und die gemeinsame Zielsetzung beim Namen genannt: den sogenannten Islamischen Staat IS und die Bekämpfung des extremistischen Terrors.

Nach dem Vorbild der Chemiewaffenvernichtung und des Atom-Deals mit dem Iran sollte man alles daran setzen um eine diplomatische Zusammenarbeit mit Russland mit dem Ziel einer politischen Lösung, sprich einem Schweigen der Waffen im syrischen Bürgerkrieg in die Wege zu leiten. Die jüngsten Äußerungen Putins beim Gipfeltreffen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit und schon zuvor Lawrows in einem Fernsehinterview mögen vielleicht manche in erster Linie als eine Parteinahme für Assad interpretieren; beide sprachen sich aber im Gegensatz zu Assad, der alle Gegner als Extremisten denunziert, deutlich für eine „breite Koalition zum Widerstand gegen Extremisten“ mit „der syrischen Regierung, der kurdischen Bürgerwehr, der gemäßigten Opposition und den Ländern der Region“ aus. Als Vorstufe einer solchen Koalition und zugleich als die Voraussetzung für den Einsatz aller Kräfte gegen den IS müsste ein Waffenstillstand im syrischen Bürgerkrieg erzielt werden. Europa würde schon dadurch mit einer Abnahme der Fluchtbewegungen profitieren. Der Waffenstillstand sollte die einzige Bedingung für weitere politische Gespräche mit allen Beteiligten (außer dem IS natürlich) sein. Je offener man in die Gespräche für eine dauerhafte politische Lösung hinein geht umso größer sind die Chancen auf einen Erfolg.

Gelingt es dieses Mal (nachdem laut Ahtisaari 2012 ein russischer Friedensplan, sogar ohne Assad, ignoriert wurde) gemeinsam Syrien zu befrieden und die Situation der Menschen im Lande nachhaltig zu verbessern und damit auch einen Anreiz zu schaffen, dass zumindest die Menschen aus den Flüchtlingslagern in der Nachbarschaft ins Land zurückkehren und am Wiederaufbau mitwirken, könnte das auch das gegenseitige Vertrauen der Europäischen Union und Russlands wieder herstellen. Es gibt ja noch eine andere gemeinsame Baustelle, die Ukraine, die im Übrigen das Potential für neue Flüchtlingsströme nach Europa in sich birgt. Nicht nur, dass im Donbass enorme Zerstörungen stattgefunden haben, steht die Ukraine als Ganzes am Rande des wirtschaftlichen Ruins. Wenn das zu Hoffnungslosigkeit, vor allem bei den jungen Menschen des Landes, führt, ist abzusehen, wohin sich die wenden, um neue Perspektiven zu erwarten. Dass die Krise der Ukraine nur gemeinsam von der Europäischen Union und Russland gelöst werden kann, liegt auf der Hand. Und eine solche Lösung wird auch von beiden Seiten dringendst gebraucht. Die Sanktionen haben beiden Seiten geschadet und sollten im Zuge einer gemeinsamen Ukraine-Politik beendet werden. Sicher kann man die Situation in der Ukraine nicht mit Syrien vergleichen; der gemeinsame Nenner ist aber, dass da wie dort nur gemeinsames Vorgehen des Westens und Russlands eine Änderung der verfahrenen Situation bewirken kann. Es ist klar, dass auch die USA in beiden Konflikten eine wesentliche Rolle spielen und eingebunden werden müssen. Aber Europa hat hier seine eigenständigen Interessen, die vielleicht manches Mal der russischen Position näher sind als der amerikanischen. Europa muss in diesen Konflikten seine eigenen Interessen wahrnehmen.

Jeder weiß es und fast jeder sagt es. Die Probleme können nur an den Wurzeln angepackt werden. Jetzt ist Europa gefordert, die vielen Worte durch Taten zu ersetzen.

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Walter Schwimmer, Mitglieder des Kuratoriums des Public Policy Institute